Die bestuhlte Stille des Konzerts im Heimathafen Neukölln wurde immer wieder durch ein Gemisch aus wilden Country-Yee-haw-Rufen und begeistertem Jazz-Solo-Zwischenapplaus unterbrochen. Allein auf der Bühne spielte Chris Thile nur mit Mandoline und Gesang zwischen eigenen Stücken auch welche von Bach, Bill und Bartók. Ich hatte nicht einen Moment lang das Gefühl, dass eine weitere Person auf der Bühne oder auch nur ein weiteres Instrument dem Ganzen etwas hätte hinzufügen können, was sicherlich auch an den hervorragenden Fähigkeiten Thiles als Entertainer lag. Die eine oder andere für mich als regelmäßigen Besucher von experimentellen Konzerten handelsübliche Spielerei mit seinem Instrument beklatschte oder belachte das Publikum als ausgefallen. Der magische Moment des Abends gehörte schon im Vorprogramm der Musikerin Lau Noah, die bei ihrem letzten Stück das Publikum in zwei Hälften geteilt jeweils eine sich wiederholende Zeile singen ließ. Nach einigen, immer lauter werdenden Durchgängen hatte ich fast das Gefühl, singen zu können. »Blow out the fire«. Der Nachhauseweg führte mich durch Neuköllner Kaffeeluft.
»Everyone considered him the coward of the county« Der Busfahrer der M41 bietet allen Fahrgästen eine solide musikalische Unterhaltung und mir eine gelungene Einstimmung auf den Konzertabend. Matt Elliott tritt in dem Moment auf die Bühne, in dem ich den Privatclub betrete. Der Applaus gilt ihm. Das erste Stück ist zum Warmspielen inklusive anschließender Entschuldigung für das Saxophon: The one in the room who likes the saxophone is the arsehole playing it. Die Lüftung ist laut und dient als zusätzliche Schicht auf den vielfach aus Gitarren-, Saxophon- und Gesangsfiguren geschichteten Liedern. Vor mir im Publikum eine völlig übertrieben und zu schnell hin und her wiegende, eher wankende Person. »It's cold I'm afraid / It's been like this for a day / The water is rising and slowly we're dying / We won't see a light again / We won't see our wives again« Höhepunkt des Konzerts ist eine großartig ausufernde Version von The Kursk. Und weil es schon kurz nach acht begann, ist das vielleicht halb ausverkaufte Konzert um viertel vor zehn auch schon wieder vorbei. »This is how it feels to be alone«
Kaum eine Pause gegönnt. Kaum eine Sehenswürdigkeit ausgelassen. So stellt sich das Gefühl ein, Lyon in zehn Urlaubstagen umfassender erkundet zu haben als Berlin in fünfzehn Wohnjahren.
Heute letzter Julitag. Am ersten Julitag im Haus der Berliner Festspiele bei der Oper Einstein on the Beach gewesen. Liegt in meinen Erinnerungen bereits weit hinten, so wie mittlerweile vieles, was mehr als ein paar Tage her ist, gefühlt in einem anderen Leben stattgefunden hat. Jeden Tag zu viele neue Dinge, die für einen kurzen Moment den Platz der Vortagsdinge einnehmen.
Kein Wunder, dass Paare im Publikum näher zusammenrücken. Schwelgen und Härten sind immer eng beieinander.
Dazwischen die Diamantene Hochzeit meiner Eltern. Sehr froh, dass die Feierlichkeiten wie geplant über die Bühne gehen konnten und dann auch gegangen sind. So etwas feiert man ja nicht jeden zweiten Tag.
Funny van Dannen erwähnt diese Anekdote auf seinem 1998 live in Hamburg aufgenommenen Album Uruguay und vermutlich habe ich so zum ersten Mal von ihr gehört. Das Leben Uwe Seelers war auch ohne diese Ohrfeige ereignisreich. Mit der Dokumentation Uwe Seeler – Einer von uns ist Reinhold Beckmann und Ole Zeisler eine anrührende Würdigung gelungen, die der NDR – geschickt im Programm platziert – genau dann noch einmal zeigt, wenn am kommenden Sonntag im Spiel zwischen dem HSV und Hansa Rostock die zweite Halbzeit angepfiffen wird.
Ich bin mir noch nicht sicher, wie aufmerksam ich den HSV in der Zweitligasaison 2022/23 verfolgen werde. Einerseits sorgt das erstmals so klar zu Saisonbeginn ausgegebene Ziel Aufstieg für eine Spannung, die entweder durch eben diesen Aufstieg oder – das liegt nahe – eher umfangreiche personelle Veränderungen in der Führungsetage gelöst wird. Mit ein bisschen Glück bekommen wir HSV-Fans sogar beides geboten! Andererseits zeigt sich die unerschütterliche Gelassenheit, mit der ich mir mittlerweile HSV-Spiele anschaue, immer öfter auch als schulterzuckende Gleichgültigkeit. Es hängt halt wenig von Wohl und Wehe des HSV und viel von anderen Dingen ab. Nichtsdestotrotz möchte ich mich mit meiner Saisonspende zu einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit zwingen:
1 € für jedes Ligaspiel ohne Rote oder Gelb-Rote Karte für den HSV
5 € für jedes Ligaspiel ohne Tor für den HSV
10 € für jedes zwischen dem ersten Ligaspieltag und Saisonende ausscheidenden Mitglied im Aufsichtsrat oder Vorstand der HSV Fußball AG sowie im Präsidium des HSV e.V.
Möglicherweise bin ich heute zum letzten Mal in meinem Leben durch eine Videothek gebummelt. Auf jeden Fall schließt mit dem Video Center in der Greifswalder Straße in einigen Tagen eines der wenigen noch verbliebenen Exemplare. Es ist nicht so richtig zu erklären, aber das Schlendern durch Gänge vorbei an Regalen mit Hüllen oft uninteressanter Filme hat mir immer überdurchschnittlich gut gefallen. (Ausverkaufsausbeute: Der mit dem Kritikschnippsel Ein nihilistischer Wutschrei auf dem Cover präsentierte Film A hole in my heart und eine Wim-Wenders-DVD mit den beiden Dokumentarfilmen Tokyo-Ga und Chambre 666)