Das Interessanteste, was ich infolge des Kriegs Russlands gegen die Ukraine gelesen habe, waren Texte von Osteuropäer*innen an und über (die) westliche Linke, die eine osteuropäische Perspektive auf den Krieg nicht nur beschreiben, sondern vorrangig einfordern. Interessant sicherlich auch deshalb, weil diese Texte einige meiner Ansichten mindestens in Frage stellen, manche zu große Wissenslücke bei mir aufzeigen und überhaupt eine etwas unangenehme Gedankenlosigkeit meinerseits sichtbar machen.
Am 25. Februar 2022, einen Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, schreibt Taras Bilous in A letter to the Western Left from Kyiv (deutsche Übersetzung: An die Linke im Westen), dass die westliche Linke als Reaktion auf Kritik an Russland immer wieder – Russlands Handlungen halb erklärend, halb entschuldigend – auf US-Agressionen verweist:
Time and again, the Western Left responded to the critique of Russia by mentioning US aggression against Afghanistan, Iraq and other states. Of course, these states need to be brought into the discussion – but how, exactly?
The argument of the Left should be, that in 2003, other governments did not put enough pressure on the United States over Iraq. Not that it is necessary to exert less pressure on Russia over Ukraine now.
Am 4. März 2022 macht Zosia Brom in Fuck leftist westplaining deutlich klar, warum die einseitige Betrachtung der NATO, sprich deren grundsätzliche Ablehnung, durch die westliche Linke für Osteuropäer*innen inakzeptabel ist:
We see NATO in a completely different, and I dare say much more nuanced way. We are not fans of it, and we can agree with you on many, many reasons to criticise it. But when you say “Fuck NATO” or “End NATO expansion”, what I hear is that you do not care about the safety and wellbeing of my Eastern European friends, family and comrades. You are happy to put my mum at risk for cheap political points you would not even be able to act on, you bastards!
Am 7. März 2022 erklärt Volodymyr Artiukh in Die USA sind nicht der Nabel der Welt, dass die westliche Linke bei der Erklärung des Ukraine-Kriegs mit ihren üblichen Ursachen – USA und NATO – nicht weit kommt und es neue und erweiterte Ansätze braucht:
Ich sehe, dass die westliche Linke auch angesichts des «Unvorstellbaren» tut, was sie seit jeher am besten kann: sie untersucht den amerikanischen Neo-Imperialismus und die Expansion der NATO. Doch das reicht nicht mehr, weil es die Welt nicht erklären kann, die aus den Ruinen des Donbas und des Hauptplatzes von Charkiv entsteht. Diese Welt lässt sich durch den Verweis auf Handlungen der USA und entsprechende Gegenreaktionen nicht erschöpfend erfassen. Sie hat ein Eigenleben gewonnen, Europa und die USA sind vielerorts nicht mehr in der Initiative. Ihr forscht den entferntesten Ursachen nach, anstatt die gegenwärtig aufkommenden Tendenzen zur Kenntnis zu nehmen.
Am 31. März 2022 beschreibt Diyora Shadijanova im einleitenden Text zu ihren Interviews in We Asked Post-Soviet Leftists What the Western Left Is Getting Wrong on Ukraine das Problem, dass Teile der westlichen Linken in Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine falsch liegen, während sie gleichzeitig die Ansichten osteuropäischer Linker ignorieren:
I’ve even begun to wonder if apologist narratives justifying Russian aggression from western leftists are a manifestation of western imperialism, in the sense that everything is positioned as a byproduct of the West. It’s in this context that the term “Westplaining” has emerged. I don’t like this term because I don’t think identity inherently determines whether someone’s position is correct and because outside of the usual criticisms, Nato expansion in Europe and its approach to Russia has been a failure, as many post-Soviet leftists agree. Yet there’s something to be said about parts of the western left being both loud and wrong about the invasion while ignoring leftists living under Putin’s sphere of influence regarding the material realities of their respective countries.
In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick dreißig Jahre zurück auf den Bosnien-Krieg, mit dem ich keine persönlichen Erinnerungen verbinde. Ich kann mich allerdings erinnern, dass Anfang der 90er-Jahre der Zweite Golfkrieg in meinem Umfeld ein sehr präsentes Thema war und wir beispielsweise im Schulunterricht Radio gehört haben, um die neuesten Nachrichten mitzubekommen. Und dass ich während der Schulzeit auf einer großen Demo gegen eben diesen Krieg war. Zum Bosnien-Krieg fällt mir nichts dergleichen ein. Meine Erinnerungen decken sich mit dem, was Markus Bickel am 6. April 2022 in Oh, wie schön ist Rojava schreibt:
Und am 6. April 1992 begann in Bosnien-Herzegowina der Krieg, der längste in Europa nach 1945. Im Jahr zuvor noch hatten Hunderttausende bundesweit gegen den Zweiten Golfkrieg demonstriert. Die Parole »Kein Blut für Öl« war griffig, und der Feind klar: die USA. Gegen Massaker und Vergewaltigung Tausender Frauen gingen Kriegsgegnerinnen und -gegner kaum auf die Straße – und das, obwohl die Verbrechen nur eine Flugstunde von München entfernt begangen wurden.
Derselbe Text bringt durch ein Zitat des syrischen Schriftstellers Yassin Al-Haj Saleh das in den oben stehenden Texten zum Ukraine-Krieg genannte Problem der westlichen Linken auf den Punkt:
»Im Namen von Solidarität, Gerechtigkeit und Humanität« werde den Menschen vor Ort so immer wieder von Linken im Westen ihre Handlungsfähigkeit abgesprochen.